Oper von Mensch zu Mensch

kompletter Text als doc pdf

Die Idee vor 400 Jahren
Vor etwa vierhundert Jahren fassten einige gelehrte Männer in Florenz den hehren Entschluss, dem Theaterideal der griechischen Antike neues Leben einzuhauchen und auf diese Weise ein Gegenstück zur damaligen Theaterpraxis zu schaffen. Die Theaterstücke des klassischen Griechenland sollten wieder so dargeboten werden wie zur Zeit ihrer Entstehung. Der Kreis um Iacopo Peri nahm an, das antike Drama sei als Gesang mit musikalischer Begleitung vorgetragen worden. Das war ein Irrtum ( zur Ehrenrettung der Herren sei angemerkt, dass sie in gutem Glauben handelten ). Ihr wohlmeinender Renaissanceversuch wurde in Wirklichkeit zur Geburtsstunde der wohl faszinierendsten Form des Theaters, der Oper.

Von Italien aus trat die neue Gattung schnell ihren Siegeszug an, nicht nur höfisches, auch immer mehr zahlendes Publikum strömte in die Theater, um dem magischen Spiel um große und kleine menschliche Leidenschaften, diesem anziehenden Miteinander von erzählter Geschichte und Musik, ihre Huldigung zu erweisen. Immer virtuoser wurden in der Folge die Werke und die Sänger, mythologische oder allegorische Materialschlachten mit gewaltiger und prunkvoll-aufwendiger Ausstattung und Bühnenmaschinerie. Überzüchteter Bombast und ein steifes Formenkorsett ließen die Gattung mehr und mehr zum blutleeren, aufgedunsenen Ritual degenerieren. zum Anfang

Die Geburt der Opera Buffa
Nur logisch, dass sich ein Gegengewicht zu den geschraubten Götter- und Heldendramen herausbilden musste, kleines, volksnahes Musiktheater ohne affektierte philosophische Attitüde. Klein in Besetzung und Aufwand, komisch bis lustig, verständlich in der Aussage: Die opera buffa war zumindest für ein Jahrhundert eine Frischzellenkur für die vordem erstarrte Gattung.
Die kleine Schwester hielt der großen ernsten Oper, aber auch der Gesellschaft den Spiegel vor, durchaus gepfeffert zuweilen. Ein auf längere Sicht befruchtendes Neben- und Gegeneinander war die Folge, bis in den Meisterwerken Mozarts und Rossinis die beiden scheinbar so gegensätzlichen Welten der „ernsten“ und der „komischen“ Oper sich in musikalischer wie inhaltlicher Hinsicht zu neuer Blüte vereinigen sollten.

Auch die heutige Opernlandschaft metropolitaner Großbühnen, bisweilen intellekualisiert-überzüchteter Regieprojekte, die Welt der Hochglanz-Festspiele und Tenor-Rummelplätze braucht ein Gegenstück. Mehr denn je im Zeitalter der Hochleistungs- und Konsumgesellschaft, der globalisierten Wertstrukturen und Denkmodelle, der allübergreifenden Vernetzung benötigt der Mensch den Spiegel, in dem er sich und seine Gesellschaft, mitunter auch in schonungs- und respektloser Offenheit entlarvt, erkennen kann. Das Theater kann eine solche Funktion erfüllen, auch ohne dabei gleich schulmeisterlich den Zeigefinger heben zu müssen. Lebender Beweis für diese These ist die Kammeroper, seit nunmehr zwanzig Jahren Frankfurts anderes Musiktheater.

Seit mittlerweile zwanzig Jahren tritt das Ensemble um Rainer Pudenz Jahr für Jahr mit jeder neuen Inszenierung mit Bravour den Beweis an, dass hochrangiges Musiktheater auch ohne schwindelerregende Kosten erfolgreich gestaltet werden kann. Intensität und Wirkung einer Inszenierung hängen weniger vom Geld ab als von der Idee. Mut, Idealismus, Kreativität und Teamgeist ersetzten von Anfang an, was das Budget nicht hergab – vier Grundpfeiler der überaus erfolgreichen Kammeroperngeschichte. zum Anfang

Kammeroperanfang 1982 in Frankfurt
Die Geschichte des Erfolges begann zunächst bescheiden: Im April 1982 hob sich in der Werner-von-Siemens-Schule erstmals der Vorhang. Ging Telemanns Pimpinone noch weitgehend unbemerkt über die Bühne, machten sich Pudenz und das Ensemble schon im darauffolgenden Jahr mit Mozarts „Bastien und Bastienne“ einen Namen in der Kulturstadt Frankfurt. In fast fünfzig Produktionen hat die Kammeroper seither Talent und Können unter Beweis gestellt und einen stets wachsenden Freundeskreis gewinnen können. Dabei wurde eine erstaunliche Bandbreite von Werken zum Leben erweckt: Nicht nur Klassiker der „kleinen“ Musikbühne wie Stawinskys Geschichte vom Soldaten, Poulencs Die menschliche Stimme, Pergolesis La serva padrona oder Mozarts Schauspieldirektor sind darunter, sondern vor allem Werke, die oft zu Unrecht in Vergessenheit geraten waren. Auch der Herausforderung des zeitgenössischen Musiktheaters begegnete die Kammeroper mit ihrer typischen Offenheit; zwei Uraufführungen von Werken Andrea Cavallaris ( La strada della vita, 1997 und Die Pianistin, 1998 ) sind besondere Höhepunkte auf diesem Gebiet.

Seine große Leidenschaft, die opera buffa Donizettis und Rossinis, teilt Rainer Pudenz mittlerweile mit einem dankbaren Publikum. Kontinuierlich und mit treffsicherem Gespür hat er ihre versunkenen Meisterwerke jenseits des Liebestranks oder des Barbier von Sevilla ins Rampenlicht zurück gebracht und damit einen wichtigen Beitrag zur Renaissance Rossinis und Donizettis auf deutschen Bühnen geleistet.

Stücke wie La cenerentola, Der Türke in Italien, La gazzetta oder auch Mozarts Gärtnerin aus Liebe sind große Opern, was Besetzung und Anforderungen betrifft. Dennoch führte sie die Kammeroper stets in voller Besetzung auf, nicht etwa als entstellte Schrumpfköpfe in Form zweifelhafter Bearbeitungen für Kleinensembles. Dieses Konzept der Werktreue ist, obgleich immer aufs Neue ein finanzieller Drahtseilakt, einzigartig unter den Kammermusikbühnen Deutschlands. Der Erfolg spricht für sich. zum Anfang

Unkonvertionelles unverkrampftes Musiktheater
Längst ist die Kammeroper Frankfurt zum Markenzeichen geworden für unkonventionelles, unverkrampftes Musiktheater fernab steifer Bühnendogmatik. Pudenz‘ typischer Regiestil macht jede Inszenierung der Kammeroper zum Spielfeld archetypischer menschlicher und gesellschaftlicher Stärken, Schwächen, Triebe, Sehnsüchte oder auch Ängste. Als Menschenkenner und Analytiker, mit viel Liebe zum Detail und ohne Berührungsängste stellt sein Regiekonzept einen frappanten Aktualitätsbezug her, in dem der Zuschauer sich und seine heutige Umwelt oft mit einem Augenzwinkern wiedererkennen kann.

Lebendigkeit und Lebensnähe werden greifbar im farbenfrohen, pointierten, respektlos-überspitzten, stets jedoch wirkungsvollen Geschehen auf der Bühne ( Man denke nur an den Maskenball in La gazzetta mit seinen zwanzig Marilyn Monroes ! ).Unverkrampftes, ehrliches Theater ist das Resultat, emotional und verständlich in seiner Botschaft, für die es die ganze Palette denkbarer Darstellungs- und Ausdrucksformen von Tragik bis Anzüglichkeit in variantenreicher Form zu nutzen versteht. Nicht selten erhalten selbst trivialste Versatzstücke des täglichen Lebens wichtige Bedeutung als Requisit auf der Kammeropern-Bühne ( Das legendäre Salatschüssel-Duett aus Der Türke in Italien oder die Duell-Besen aus La gazzetta sind nur die Spitze des Eisberges ), indem sie das groteske oder komische der Spielsituation beredt und lebendig akzentuieren

Fernab der Mottenkugel- und Puderperückenromantik früherer Jahrzehnte hat die Kammeroper mit Bravour bewiesen, wie modern, aktuell und spritzig Buffa-Oper heutzutage noch sein kann und damit die unbedingte Lebensfähigkeit dieses oft als „zweitklassig“ oder „angestaubt“ belächelten Genres unter Beweis gestellt.
Indem die Inszenierung dem Betrachter Reflexionsräume über das Selbst und das Leben bietet, verlässt die Oper den Elfenbeinturm und kehrt zurück zum Menschen. Dass diese Annäherung und Reflexion auf so zwanglose, bei aller schrillen Buntheit doch niemals belehrende oder aufdringliche Weise erfolgt, beweist, dass Operngenuss auch ohne schweren Kopf am Morgen danach möglich ist und drückt dem Wirken der Kammeroper Frankfurt ein zusätzliches Qualitätssiegel auf.
zum Anfang

Nicht ohne ein eingespieltes Team
Natürlich gehört zur erfolgreichen Umsetzung einer Theateridee nicht nur ein Ideengeber, sondern auch ein gutes Produktionsteam auf und hinter der Bühne – gerade in der Oper, wo sich viele verschiedene Kunstgattungen zu einem Gesamtereignis fügen. Neben der Qualität von Regie und Dramaturgie sind Faktoren wie Kostüme, Bühnenbilder, Requisiten, Beleuchtung und, last not least, natürlich die Leistung und Qualität des Sänger- und Musikerensembles gleichermaßen entscheidend für das Gelingen eines Vorhabens. Musiktheater ist im Idealfall eine harmonische Balance dieser kreativen Teilkräfte, deren gemeinsame Korrespondenz das Gesamtereignis erst ermöglicht. Rainer Pudenz kann sich auf ein eingespieltes Team kreativer Mitstreiter verlassen. Im bewährten Zusammenspiel all dieser Kräfte liegt seit Beginn die Wurzel dafür, dass die Kammeroper zu einem festen und ernst zu nehmenden Bestandteil der Frankfurter Theaterszene werden konnte.

In den bunten, phantasievoll-unorthodoxen Kostümkreationen Margarete Berghoffs, einer Mitstreiterin der ersten Stunde, finden Pudenz‘ Regiekonzepte seit jeher eine optisch reizvolle Erweiterung. Längst sind Margarete Berghoffs Kostüme zum schätzenswerten Markenzeichen jeder Kammeropern-Produktion geworden, ebenso wie die Bühnenbilder Joao Malheiros, in denen sich Kreativität und Funktionalität in gelungener Weise paaren. Auf eigenständige Weise führt Malheiro, von Haus aus Bildhauer, seit Jahren erfolgreich die Arbeit seines Vorgängers, des Malers Iz Maglow, fort. Beider Arbeit hat die Qualität der Kammeroper entscheidend mitgeprägt. Bei aller Verschiedenheit der Ausdrucksmittel der beiden Künstler - Malheiro setzt im Vergleich zur knallbunten Abstraktion Maglows verstärkt auf konstruktivistische Akzente des Bühnenbildes - ist stets eine Übereinstimmung mit dem jeweils entwickelten Produktionskonzept das Endergebnis. Die Beleuchtungsregie rundet den optischen Aspekt jeder Aufführung stimmig ab. Die Brüder Frank und Dirk Keller, seit Jahren die guten Geister der Kammeropern-Technik, sorgen hierfür mit erfahrener Hand und dem nötigen Timing.

Markus Neumeyer, seit einem Jahr musikalischer Leiter der Kammeroper, hat bereits mit seinem Debut, der Dreigroschenoper, eine eindrucksvolle Kostprobe seines Könnens abgeliefert. Akribisch und feinnervig, mit zielstrebigem Blick für das Wesentliche in der Erarbeitung eines jeden Stückes, vermag er sowohl im Probenraum als auch am Dirigentenpult das Vokal- und Instrumentalensemble zu stimmigen Gesamtleistungen zusammenzuführen. Das engagierte Wirken dieses jungen Dirigenten weckt den Wunsch, im Wege einer kontinuierlichen Zusammenarbeit über einen längeren Zeitraum das traditionell beachtliche musikalische Niveau der Kammeroper zu sichern und weiter zu entwickeln. Ein langjähriges Zusammenwachsen von musikalischer Leitung und Ensemble, wie seinerzeit unter Andreas Weiss und Martin Krähe praktiziert, deren erfolgreiche Arbeit Roland Böer und Arne Willimczik zwischenzeitlich fortsetzten, ist der zweifellos beste Garant für qualitative Kontinuität.

Gleiches Lob gilt auch für Armin Rothermel, dessen perfekt einstudierter Chor seit Jahren einen wichtigen Anteil zum Erfolg der Kammeroper beisteuert. Dabei besticht der rein männliche Chor der Kammeroper nicht allein in musikalischer Hinsicht, sondern auch durch seine spontan-witzige spielerische Präsenz und Wandlungsfähigkeit auf der Bühne.

Was aber wären jene bestechenden Momente und Leistungen auf der Bühne wert ohne ein gutes Orchester? Die Qualität und Präzision orchestraler Begleitung sind das Fundament, auf dem die Wirkung des gesanglichen Spiels auf der Bühne aufbaut, schlussendlich ein entscheidender Faktor für die Opernaufführung als Gesamtereignis. Die Kammeroper Frankfurt hat das Glück, über ein qualitativ hochstehendes Orchester zu verfügen. In jedem Jahr findet sein bewährter Kern aus erfahrenen Musikern Ergänzung durch neue, junge Orchestermitglieder, wobei die Ensemblequalität stets auf hohem Niveau stabil bleibt. Nicht nur im Hinblick auf die bekanntermaßen knappen Finanzmittel der Kammeroper ist dies eine äußerst beachtliche Tatsache. Dem Engagement aller Musiker gebührt höchste Anerkennung. Stellvertretend für sie alle sei Susanne Kohnen genannt. Die sympathische Oboistin besticht seit Jahren durch ihr menschliches und musikalisches Engagement für das Orchester und damit für das Hauptziel der Kammeroper Frankfurt: Musiktheater auf hohem Niveau.
zum Anfang

Visionen
Oper ist, um einen legendären Satz zu zitieren, wenn man einen Dolch in die Rippen bekommt und, statt zu sterben, singt. In der Tat erfolgt – auch wenn auf der Kammeropernbühne nicht gestorben wird – die Identifikation des Besuchers mit dem Medium Oper in den meisten Fällen über den Gesang, über die Sänger dort oben auf der Bühne, deren stimmliche und spielerische Ausstrahlung den Bogen der Faszination über den Orchestergraben hinweg ins Publikum spannt.

Zahlreiche Sängerinnen und Sänger aus aller Welt haben in den vergangenen zwanzig Jahren ihre künstlerische Visitenkarte auf der Bühne der Kammeroper abgegeben und so einen bedeutenden Anteil zur Qualität und Popularität der Kammeroper als Synonym für „Oper der anderen Art“ auch über die Stadtmauern Frankfurts hinweg erworben.
Traditionell bietet die Kammeroper talentierten jungen Sängern eine szenische Bewährungschance auf der Bühne. Für viele von ihnen wurde ein Engagement im Solistenensemble das Sprungbrett zu einer Karriere im In- und Ausland. Andere Künstler sind als langjährige Weggefährten des Ensembles mittlerweile zu Identifikationsfiguren der Kammeroper geworden, allen voran Bernd Kaiser, dessen unverwechselbare Darstellungen längst zum Inbegriff für den typischen Buffa-Stil Frankfurter Prägung geworden sind. Ohne ihn und all seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter im Rampenlicht wäre die Kammeroper nicht zu dem geworden, was sie heute ist: Eine Insel blühender Lebensfreude im grauen Einerlei des modernen Alltags.

Was vor zwanzig Jahren als Vision eines Einzelnen in bescheidenem Rahmen fast unbemerkt als Gemisch aus Inspiration, Idealismus und Improvisation seinen Anfang nahm, ist heute, stilistisch wie qualitativ, ein fester Begriff in Frankfurts Theaterlandschaft. Die seither erworbene Reputation ist die Frucht kontinuierlicher und konzentrierter Arbeit mit dem Ziel lebendigen Musiktheaters ohne aufgesetzte Allüren, eines schwerelosen und doch wahrhaftigen, menschlichen Theaters der Freude, Sinnlichkeit und Besinnlichkeit. Kunst ist niemals Tempeldienst. Eine Grundwahrheit, Prinzip, Maxime und Sinnblild für die Kammeroper Frankfurt, gestern wie heute, Anspruch und Ansporn für die Zukunft.
zum Anfang

© 2003 Kammeroper Frankfurt e.V.